Nachruf | Prof. Peter Becker
HGNM Nachruf, Mitgliederversammlung am 23.9.2018
Prof. Peter Becker
geb. 15.Mai 1934 in Glatz/Schlesien – gest. 5. Juni 2018 in Hannover
Annäherung, Metamorphose, Verhältnisbestimmung, Vergleich als Methode, Vermittlung – das Interesse am Denken, am Entwickeln und Verstehen von Zusammenhängen prägte Peter Beckers Leben und Arbeiten. Dabei ging es nicht um die schnelle Lösungs- oder Begriffsfindung, die oft schon bald ihr Verfallsdatum offenbart, sondern um das gedankliche Einkreisen, die Annäherung, wie es die essayistische Schreibweise verkörpert, die ihm so eigen war, die es aber auch anderen nicht gerade leicht machte, die Essenz der Gedankenführung sofort zu entdecken. Das ergab sich erst in der Nachwirkung, weil seine Gedankenkette beim Hörer oder Leser ein Nach-Denken zurücklie., in dem der Sinn in einer Mischung aus Erfühlen, Empfinden und Verbinden plötzlich als Verstehen aufleuchtete.
Musik, künstlerisch und theoretisch, Germanistik, Philosophie und Pädagogik waren die Bezugsfelder seines weit aus- und aufgreifenden Denkens, das ihn charakterisierte. „Wir müssen in der Musikpädagogik alles mehr im Zusammenhang sehen und zusammendenken, das ist unserer Aufgabe!“ sagte er mal auf einem Spaziergang in der Eilenriede. Die Sensibilität der Suche ist der erste Schritt zur Lösung – und Peter Becker war ein Suchender, der unter den zeitgenössischen Komponisten Gleichgesinnte fand. Ihnen, dem Ausdruck und der Botschaft ihrer Werke, fühlte er sich eng verbunden, ihnen galt seine geisteswissenschaftliche Zuneigung und ihnen widmete er wie kaum ein anderer Musikpädagoge seiner Zeit als Autor und Hochschullehrer einen großen Teil seiner Arbeitskraft.
Peter Becker hatte die Kriegswirren, die Nöte der Vertreibung und dann die geistige Sinnsuche und die materiellen Überlebenskämpfe der Nachkriegszeit hautnah miterlebt. Aus diesen Erfahrungen, verbunden mit einer angeborenen künstlerisch-ästhetischen Sensibilität, entstanden in ihm schon früh Vision, Hoffnung und Glaube an die Aufgabe der Musik als Kunst, die Zeitläufe widerzuspiegeln, Sein und Sinn des Menschen in der Welt zu reflektieren und Anwalt und Ausdruck des Leidens des Individuums zu sein im Systemzwang verschiedener Gesellschaftsformen.
Seine beeindruckend umfangreiche Bibliothek, seine vielen Publikationen, Rundfunkbeiträge und Werkeinführungen in Programmheften spiegelten diese Suche wider, und auch die Themen seiner Lehrveranstaltungen kündeten von dieser selbst gesetzten Aufgabe und Mission: Vielen Studierenden wurde erst in seinen Seminaren bewusst, dass es nicht nur an ihrer zukünftigen Lehrertätigkeit liegt, dass Schülerinnen und Schüler ein Kulturverständnis entwickeln, sondern dass sie selbst als Lehrerinnen und Lehrer für unsere Gesellschaft nur wirken bzw. wirksam sein können, wenn sie selbst in sich diesen künstlerisch-ästhetischen Reflexions- und Reifungsprozess ausgetragen haben.
1954-1960 studierte Peter Becker in Köln an der Musikhochschule und an der Universität die Fächer Schulmusik, Germanistik, Philosophie und Pädagogik – vielleicht prägte diese rheinische Großstadt auch seinen Witz und Humor, der sich nicht nur in seinen geistreichen Reden und seiner entspannten Lebenshaltung niederschlug („Es hätte schlimmer kommen können!“), sondern auch in seinen frühen Chorkompositionen. Der Komponist Hermann Schroeder (1904-1984) war einer seiner Lehrer, offenbar wohl der prägendste; die Querflöte war Peter Beckers Instrument.
Eine umfangreiche künstlerischen Tätigkeit schloss sich nach dem Studium an: Komponist von Chormusik, Cembalo- und Klavierpartner des Cellisten Othello Liesmann, Organist an der Schlosskirche Bad Iburg und Chorleiter des Männergesangvereins Bad Iburg, Wiederentdeckung und Aufführung des Oratoriums „Der Tod Jesu“ von Johann Friedrich Christoph Bach 1964 in Bückeburg – und ganz nebenbei, über Jahrzehnte, spielte er die Orgel sonntags in der St. Elisabeth-Kirche in Hannover, wo sich am 16. Juni 2018 eine so große Gemeinde aus Angehörigen, Freunden, ehemaligen Studierenden, Mitgliedern der Musikhochschule und Persönlichkeiten des Musiklebens in Deutschland zum Abschied an seinem Sarg einfand, dass das Fassungsvermögen der St. Elisabeth-Kirche nicht ausreichte.
Nach der Referendarzeit in Göttingen folgte 1962-1970 seine Tätigkeit als Musik- und Deutschlehrer an der Niedersächsischen Heimschule in Bad Iburg a. T.W, deren Schülerschaft aus vielen Flüchtlingskindern bestand. 1970 holte ihn die Hochschule für Musik und Theater als Oberstudienrat in den Hochschuldienst für den Studiengang Lehramt an Gymnasien und ernannte ihn 1975 zum o. Professor für Musikpädagogik und Leiter des Studiengangs (bis 1993). Als Vizepräsident 1990 und Präsident 1993-1997 lag ihm viel daran, der Neuen Musik einen größeren Stellenwert im Hochschulleben einzuräumen, denn – so seine Auffassung – eine Musikhochschule habe der Ort für das freie Experimentierfeld junger Komponistinnen und Komponisten zu sein und habe die Aufgabe, das Verständnis Neuer Musik über die Hochschule hinaus zu vermitteln; sie stehe auch in der Pflicht, Anlässe zur dialogischen Begegnung zwischen Publikum und Kompositionen Neuer Musik zu schaffen – die Hannoversche Gesellschaft für Neue Musik war dabei eingebunden.
Die Hannoversche Allgemeine Zeitung (HAZ) wählte am 7. Juni 2018 im Kulturteil für ihren Nachruf auf Peter Becker die Überschrift „Der Impulsgeber“. Neben einem Staunen erregenden Werk an Schriften zur Ästhetik der Neuen Musik, zur Musikvermittlung, zur Musikdidaktik und Musikpädagogik, das noch weiterer Dokumentation und wissenschaftlicher Aufarbeitung bedarf, steht heute fast unbeachtet eben diese von der HAZ genannte „Impulsgeber“-Funktion. Dazu gehören neben seiner Tätigkeit an der Musikhochschule prägende Impulse seit 1980 zur Musiklehrerausbildung („Hannoversches Modell“), der Vorsitz der AG der Leiter der Schulmusikabteilungen 1990-1993, zahlreiche Vorträge auf musikpädagogischen Kongressen und Lehrerfortbildungen und seine Stimme mit Wort und Schrift im polnisch-deutschen Kulturdialog, um auch hier wieder – nach den leidvollen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg – dem Wiederaufleben der Humanität zwischen Nachbarn Ausdruck zu verleihen. Und Nachdenklichkeit sollte herausgehoben werden: Das ist auch der Sinn des von ihm und seiner Familie gestiftete Wissenschaftspreises, der herausragendes Masterarbeiten wissenschaftlich engagierter Studierender nicht nur auszeichnet, sondern auch ein feiner Fingerzeig ist, dass Musik als Kunst und Musikwissenschaften aufeinander bezogen sind – ein Profil, das die HMTMH ab 1970 als erste in der Musikhochschullandschaft entwickelte und damit für andere zum Vorbild wurde.
Im Heft zum Requiem für Peter Becker standen die Worte „Finis. Non Finis …“. „Ein Ende. Kein Ende!“ Die Bedeutung erschließt sich uns, wenn wir das Wirken Peter Beckers sehen, das in seinem großen Schülerkreis weiterlebt – ästhetisch, musikpädagogisch, kompositorisch, dramaturgisch – im Klassenzimmer, auf und hinter der Bühne, auf dem Podium und in den vielen Schriften. Ich hatte das Glück, ihn seit 1979 in seiner Arbeit begleiten und von ihm lernen zu dürfen.
Karl-Jürgen Kemmelmeyer